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Der 35. Berliner Halbmarathon – so war’s
Da stehe ich nun. Frierend, mit nur einem Plastiksack über den dünnen Funktionsklamotten, der mich vor Wind und Wetter schützen soll. Denn das ist heute so, wie man es im Frühling in Berlin gewohnt ist: wolkengrau, mit ordentlich Wind und drohendem Regen. Allerdings stehe ich nicht allein. Um mich rum gruppieren sich über 32.000 andere Menschen, ebenfalls todschick in grüner oder gelber Plaste. Und wir alle haben das gleiche Ziel: 21,1 km durch die halbe Stadt zu laufen. Es ist der 29. März 2015 und ich bin kurz davor, meinen ersten Halbmarathon zu laufen.
Als HM-Jungfrau bin ich in der letzten Startergruppe, D, platziert. Das bedeutet, dass meine Laufpartnerin und ich eine schier endlose Zeit warten müssen, bevor wir endlich loslaufen dürfen. Natürlich haben wir den Anfängerfehler begangen, viel zu früh vor Ort zu sein. Und bist du einmal in deinem Block gelandet, sind die Dixie-Klos in weiter Ferne. Und rate mal, was man muss, wenn man ganz besonders nervös ist? Genau. Aus Angst, den Start zu verpassen, klemmen wir die Beine zusammen und versuchen, an alles andere zu denken, nur nicht an Pipi. Unser obligatorisches Selfie wirkt dementsprechend gequält, das kann auch der photobombende Engländer hinter uns nicht rausreißen. Neben dem Frieren, den wackligen Knien und der Blase gibt es einen zusätzlichen Stressfaktor. Der Moderator macht Stimmung, leider mit der großen Après-Ski-CD-Kollektion. Bei Helene Fischer hat selbst er Erbarmen: „Ich erlöse euch jetzt.“ Plötzlich geht alles ganz schnell. Die letzte Gruppe D darf nach vorne zum Start, ich werde plötzlich hektisch – Runtastic starten, Laufuhr anstellen, lostraben. Ach du scheisse, ich habe gerade meinen ersten Halbmarathon begonnen.
Spoiler Alert: 2 Stunden und 14 Minuten und 40 Sekunden ist alles vorbei. Ich habe es geschafft, ins Ziel zu kommen bevor mich der Kehrwagen der BSR auflesen musste. Das ist eine respektable Zeit für mich Couch-Potato, die während der (zugegebenermaßen nicht sehr strukturierten) Trainingsphase immer wieder ihre Krisen hatte. Wer läuft, der kennt es: auf himmelhochjauchzend folgt zu Tode betrübt. Kannst du in dem einem Monat gar nicht genug bekommen vom Laufen, läufst sogar bei Eis, Schnee und Minustemperaturen, kannst du dich in den folgenden Monaten nur schwer aufraffen. Sei es der Schweinehund, seien es Verletzungen (mehr dazu später) oder sei es die Konkurrenz, die dir davonzulaufen scheint: Gründe für ein Motivationsloch gibt es immer. Was ich aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sagen kann: wenn ich einen Halbmarathon laufen kann, dann kann das fast jeder gesunde Mensch. Was ich dabei gelernt habe? Jede Menge an Erkenntnissen. Die 10 wichtigsten lest ihr im folgenden.
10 Lektionen, die ich beim Halbmarathon gelernt habe
1. Laufen tut weh.
Laufen muss nicht per se weh tun. Bei einem langen Lauf ist es aber mehr als wahrscheinlich, dass sich der ein oder andere Muskel schmerzhaft bemerkbar macht. Ich war nicht zu 100% körperlich fit, als ich an den Start gegangen bin. Eine Wadenzerrung war zum Glück bereits verheilt, die Muskeln im Unterschenkel schienen aber seit Wochen bleischwer, was sich auch während des gesamten Laufs bemerkbar machte. Ab circa Kilometer 10 kam plötzlich mein rechtes Knie hinzu. Es war kein krasser Schmerz, der nicht auszuhalten war. Aber es war doch kein angenehmes lockeres Laufen wie sonst meistens. Will man die restlichen 10 Kilometer trotz Wehwehchen überstehen, braucht es vor allem eins: mentale Stärke.
2. Der Kopf läuft mit.
Ich bin gerne jemand, der sich über allzu spirituelles Selbsthilfe-Blabla lustig macht. Affirmationen nach dem Motto „ich bin eine wunderbare Frau und dies wird ein wundervoller Tag“ machen mich eher aggressiv als dass sie mich motivieren. Selbstgespräche – oder zumindest positive Gedanken – können aber beim Laufen extrem helfen. Ich weiss nicht, ob es die Endorphine waren oder ob aller Sauerstoff von meinem Hirn in die Beine gewandert ist, jedenfalls war ich auch in Momenten als ich etwas kraftlos war oder die Waden zwackten extrem euphorisiert. „Krass, ich laufe den Halbmarathon!,“ war nur einer der vielen Gedanken die mich vorangetrieben haben. Der Gedanke an meinen sich formenden athletischen Körper im knappen Zweiteiler an einem südeuropäischen Strand hat auch ungemein geholfen. Wer es gerne etwas konkreter möchte: Hier (http://www.thepeacefulrunner.com/positive-affirmations.html) finden sich Mantras, die beim Laufen motivieren – von „I am light and fast“ (ha ha!) bis zu „I am getting faster“ (hat funktioniert!)
3. Unterstützung ist alles.
Im Vorfeld habe ich so wenig Menschen wie möglich von meinem Plan, den Halbmarathon zu laufen, erzählt. Ein großer Fehler, wie sich im Nachhinein herausstellte. Ich hatte zu große Angst, zu früh aufgeben zu müssen, es nicht in der geforderten Maximalzeit (angeblich 3 Stunden) zu schaffen, mich zu blamieren und Menschen zu enttäuschen. Das hatte zur Folge, dass ich kaum jemanden an der Strecke hatte, der mich anfeuern konnte. Zum Glück warteten mein Bruder und seine Freundin bei Kilometer 19 auf mich. Den Push, den ich dadurch erhalten habe, kann ich gar nicht beschreiben. Schon ab Kilometer 12 zählte ich runter: Noch 7 Kilometer bis zu Micha und Nicole, noch 6 Kilometer…. Wenn du dann bekannte Gesichter in der Menge siehst, die dir zujubeln und an dich glauben, das ist ein kaum beschreibbares Gefühl. Wie beneidete ich die vielen Team-Läufer, denen ganze Gruppen zujubelten. Umso mehr habe ich mich über ein paar Leute auf dem Ku’damm gefreut, die das Plakat „Go random stranger, go!“ hochgehalten haben. Danke dafür!
4. Kopfhörer sind total ok.
Bei manchen Läufen sind sie verboten, bei vielen Läufern verpönt: Kopfhörer im Ohr. Von „aber dann bekommst du doch gar nix von der tollen Atmosphäre mit“ bis hin zu „das ist ein Sicherheitsrisiko“ hört man allerlei Unsinn zu dem Thema. Ich für meinen Teil möchte gerne hören, was mir die Runtastic-Frau zu sagen hat. Es motiviert mich, wenn mir jeden Kilometer verkündet wird, wie schnell ich bin. Die ersten 10 Kilometer bin ich gänzlich ohne Musik gelaufen, danach hatte ich ein kleines Tief und hab’ mir meine Spotify-Running-Playlist gemacht. Und was soll ich sagen: die Beastie Boys, Rolling Stones und Angel Haze haben mich auf einmal schneller laufen lassen! Die vielen Samba-Trommler an der Strecke habe ich trotzdem noch gehört und man kann die Musik ja schließlich auch leiser schalten. Das beste Argument gegen ein angebliches Sicherheitsrisiko habe ich auf Facebook gelesen: „Es gibt schließlich auch jede Menge gehörlose Läufer und du willst doch bestimmt nicht behaupten, dass diese ein Sicherheitsrisiko darstellen?“
5. Weniger ist mehr.
12 Grad und Regenwahrscheinlichkeit, natürlich ziehe ich da meine lange Lauftight, ein Funktionsoberteil plus Laufregenjacke an! Falsch! Wie sehr hätte ich mir gewünscht, ein T-Shirt oder wenigstens nur ein Longsleeve zu tragen. Die Jacke, obwohl hauchdünn und atmungsaktiv, war zu warm, die Ärmel zudem zu eng, um sie hochzuschieben. Fazit: nächstes Mal später kommen, um nicht so lange in der Kälte warten zu müssen, dafür weniger warm angezogen sein.
6. Ein Läufer hat keine falsche Scham.
Wer läuft, der sieht sich plötzlich mit Themen konfrontiert, die zumindest jemand der ähnlich gestrickt ist wie ich sonst gerne ausblendet. In „Der Darm, des Läufers Feind“ (http://www.spiegel.de/gesundheit/ernaehrung/darm-mit-charme-warum-das-organ-beim-laufen-ueberbewertet-wird-a-1017625.html) spricht Achim Achilles die traurige Wahrheit aus: „Läufer sind Schisser.“ Fast jeder Langstreckenläufer kann die ein oder andere Story dazu erzählen und irgendwann ist einem sowas auch überhaupt nicht mehr peinlich, sondern gehört fast zum guten Läuferton. Zum Glück hat sich meine Angst diesbezüglich beim Halbmarathon nicht bestätigt: ich musste lediglich klein. Und wenn die Dixie-Klos nur sehr spärlich auf der Laufstrecke verteilt sind und man keine wertvollen Minuten beim Anstehen verlieren möchte, dann entleert man sich halt im Tiergarten. Sorry, Ordnungsamt! Und es interessiert überhaupt keinen, was man da macht oder ob man gesehen wird. Hauptsache es geht schnell und man kann gleich wieder weiterlaufen.
7. Dehnen!
Auch wenn man, nachdem man ins Ziel eingelaufen ist, sich am liebsten auf den Boden legen würde (und für die nächsten zwei Stunden nicht mehr aufstehen möchte): Stretching ist ein Muss! Wer die Muskeln nicht ausreichend dehnt, bezahlt dafür in den nächsten Tagen und Wochen. Und ja, ich spreche aus leidvoller Erfahrung: Mein Schienbein schmerzt auch zweieinhalb Wochen später noch. Ich gelobe: nie wieder werde ich das Dehnen vernachlässigen und die Blackroll (http://blackroll.de) ist ab sofort mein bester Freund.
8. Aufgeben ist eine Option.
„Giving up is not an option.“ Nur einer der Pinterest-Sprüche, die motivieren sollen, aber ohne Kontext total dämlich sind. Ein Freund ist die letzten Kilometer mehr gehumpelt als gelaufen, mit einer Verletzung, die sich anschließend als Muskelfaserriss herausstellte. Inklusive Tramal-Spritze in der Rettungsstelle, zwei Wochen Krankschreibung und Krücken. Der Ehrgeiz war in diesem Fall zuviel. Ich gebe zu, gerade bei meinem ersten Halbmarathon wäre es mir extrem schwergefallen, das Rennen aufgrund von Schmerzen abzubrechen. Wenn es aber so weh tut, dass man die Zähne zusammenbeißen muss, dann ist es nicht immer ratsam, nur das kurzfristige Ziel vor Augen zu haben.
9. Vergleiche dich nicht.
Meine Laufpartnerin ist die gleiche Strecke in gut einer Viertelstunde weniger gelaufen. Es war mir im Vorfeld klar, dass sie schneller sein würde, schließlich hatte sie länger und bedeutend härter trainiert. Das führte mitunter zu Spannungen zwischen uns – das morgendliche gemeinsame Laufen machte mir plötzlich keinen Spass mehr, weil ich merkte, dass wir auf einem unterschiedlichen Fitness-Level sind. Eine Zeit lang ging es so weit, dass ich gar nicht mehr mit ihr laufen wollte, aus Angst, mich zu überfordern und sie zu unterfordern. Zum Halbmarathon waren diese negativen Gedanken weg. Ich ließ sie gleich zu Beginn an ziehen und lief in meinem Tempo. Und, seien wir mal ehrlich: Die grenzenlose Freude, einen Halbmarathon geschafft zu haben wird in keinerlei Weise dadurch getrübt, das jemand anders schneller war als du. Um es mit dem weisen Baz Luhrmann zusagen: „Don’t waste your time on jealousy. Sometimes you’re ahead, sometimes you’re behind. The race is long and in the end, it’s only with yourself“ (Baz Luhrmann, Everybody’s Free (to Wear Sunscreen). https://youtu.be/sTJ7AzBIJoI
10. Mach weiter.
Der Halbmarathon ist geschafft, Wahnsinn! Doch was kommt jetzt? Meine Schienbeinverletzung (unter Läufern bekannt als „Shin Splints“) zwangen mich zu einer längeren Laufpause. In dieser Zeit kann man leicht in ein Loch fallen. Was hilft: sich das nächste Ziel zu setzen. Das kann ein weiterer Halbmarathon sein, ein 10k oder eben auch eine neue persönliche Bestzeit. Mein Hauptziel ist es, meine Lauftechnik zu verbessern, um zukünftigen Verletzungen vorzubeugen. Dafür habe ich mich beim Lauftreff Berlin für ein Lauftraining angemeldet. http://lauftreff-berlin.de
Dieser Artikel erschein ursprünglich auf Halbsowichtig, dem Blog von Alex & Sandra über alles und nichts.